Windkraftwerke und Stromtrassen

Der Wind weht – aber warum dreht sich das Windrad nicht?

Ein Anblick, der viele irritiert: Bäume wiegen sich im Wind, Schals flattern – und doch steht das Windrad am Horizont vollkommen still. Was zunächst wie ein technischer Defekt wirkt, ist in Wahrheit ein Spiegelbild der Komplexität unseres Stromsystems. Dieser scheinbare Widerspruch bietet einen spannenden Einstieg in die Funktionsweise unseres Energiemarktes und die Herausforderungen der Energiewende.

Strom ist kein Lagergut

Im Gegensatz zu Wasser, Öl oder Gas lässt sich Strom nicht einfach speichern – zumindest nicht in nennenswerten Mengen oder über längere Zeiträume hinweg. Wenn du den Lichtschalter betätigst, muss der Strom genau in diesem Moment erzeugt werden. Dieses physikalische Prinzip bestimmt unser gesamtes Stromsystem: Erzeugung und Verbrauch müssen stets im Gleichgewicht sein.

Das Stromnetz ist daher ein Echtzeit-System. Der Strom fließt nahezu mit Lichtgeschwindigkeit von der Erzeugungsquelle zum Verbraucher. Wird mehr Strom erzeugt, als in diesem Moment verbraucht werden kann, droht eine Überlastung des Netzes. Um das zu verhindern, greifen Netzbetreiber ein – oft durch das Abschalten von Anlagen. Genau hier kommt das Windrad ins Spiel.

Zu viel des Guten – und das Netz gerät ins Schwitzen

Besonders an sonnigen und windigen Tagen passiert es schnell: Solaranlagen auf Dächern und große Windparks produzieren gemeinsam mehr Strom, als aktuell gebraucht wird. In einem idealen System könnten wir diese Energie speichern und später nutzen. Doch die heutigen Speicherkapazitäten reichen dafür nicht aus.

Deshalb müssen Wind- oder Solaranlagen in solchen Momenten gezielt heruntergefahren werden – dieser Vorgang wird „Abregelung“ genannt. Er hilft, die Netzstabilität zu wahren und Überlastungen zu verhindern. Da Windräder mit ihren großen Rotoren weithin sichtbar sind, fällt es besonders auf, wenn sie stillstehen. Solaranlagen hingegen reduzieren leise und unsichtbar ihre Leistung – ohne dass es jemand bemerkt.

Diese Situation erzeugt ein paradoxes Gefühl: Wir haben genug – ja sogar zu viel – erneuerbare Energie, können sie aber nicht vollständig nutzen. Das führt zu berechtigter Frustration und zur Frage: Warum bauen wir überhaupt noch neue Anlagen?

Die Brücke zwischen Angebot und Nachfrage: Speicher

Die Antwort auf dieses Dilemma lautet: Speicher. Sie sind der Schlüssel, um die zeitliche Lücke zwischen Energieerzeugung und -verbrauch zu schließen. Die Sonne scheint mittags – der Stromverbrauch ist jedoch oft abends am höchsten. Und manchmal weht der Wind nachts stark, wenn nur wenig Strom gebraucht wird.

Verschiedene Speichertechnologien sollen dieses Problem lösen. Pumpspeicherkraftwerke gehören zu den ältesten Methoden: Bei Stromüberschuss wird Wasser in ein höher gelegenes Becken gepumpt. Bei Bedarf fließt es zurück und treibt eine Turbine an. Moderner und flexibler sind Batteriespeicher, die sich gut für kurzfristige Schwankungen eignen. In Zukunft wird auch Wasserstoff eine wichtige Rolle spielen: Überschüssiger Strom kann zur Elektrolyse genutzt werden, um Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten – der Wasserstoff kann gespeichert und später wieder verstromt oder in anderen Sektoren genutzt werden.

Der Ausbau von Speichern ist jedoch teuer und technisch anspruchsvoll. Deshalb hinkt ihre Entwicklung noch hinterher. Dennoch sind sie unverzichtbar für die Energiewende.

Ein Balanceakt im Sekundentakt: Netzfrequenz und Stabilität

Damit das Stromnetz stabil bleibt, muss die Netzfrequenz – in Europa 50 Hertz – konstant gehalten werden. Schon kleinste Abweichungen zeigen, ob zu viel oder zu wenig Strom im Netz ist. Bei einer Überproduktion steigt die Frequenz, bei einem Mangel sinkt sie.

Hier greifen die Netzbetreiber ein. Sie überwachen in Echtzeit das Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch – und steuern bei Bedarf nach. Dieser Prozess ist hochkomplex und basiert auf einem Zusammenspiel aus technischen Regelmechanismen, menschlicher Expertise und zunehmend künstlicher Intelligenz.

Ein weiteres Werkzeug ist das sogenannte Redispatch. Dabei werden bestimmte Kraftwerke angewiesen, ihre Leistung zu erhöhen oder zu senken – je nachdem, wo im Netz der Strom benötigt wird. Auch Wind- und Solaranlagen sind davon betroffen.

Die Wettervorhersage als Planungsgrundlage

Da Wind- und Solarenergie stark vom Wetter abhängen, spielt die Vorhersage eine zentrale Rolle im Energiemanagement. Je genauer wir wissen, wann und wie stark der Wind weht oder die Sonne scheint, desto effizienter können wir Erzeugung, Speicherung und Verbrauch planen.

Heute nutzen spezialisierte Anbieter komplexe Wettermodelle, Satellitendaten und künstliche Intelligenz, um präzise Prognosen zu erstellen. Diese fließen in die Planungen von Netzbetreibern, Stromversorgern und Betreibern von Erneuerbare-Energien-Anlagen ein. Gute Prognosen können unnötige Abregelungen oder Engpässe verhindern.

Doch das Wetter bleibt launisch. Deshalb muss das System nicht nur auf Präzision, sondern auch auf Flexibilität ausgerichtet sein.

Digitalisierung als Treiber der Energiewende

Ein weiterer Schlüssel liegt in der Digitalisierung. Intelligente Stromzähler (Smart Meter), flexible Tarife und digitale Netzleittechnik machen unser Energiesystem transparenter und steuerbarer. Verbraucher können durch variable Strompreise motiviert werden, ihren Verbrauch in Zeiten hoher Erzeugung zu verlagern.

Auch das „Demand Side Management“ – die gezielte Steuerung des Verbrauchs – wird immer wichtiger. Große Industrieanlagen oder Kühlhäuser können zeitweise heruntergefahren werden, um das Netz zu entlasten. Künftig könnten auch Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen oder Elektroautos flexibel gesteuert werden.

Fazit: Stillstand mit System

Wenn Windräder stillstehen, obwohl der Wind weht, handelt es sich nicht um eine Panne, sondern um eine notwendige Maßnahme in einem hochkomplexen System. Unser Stromnetz ist ein empfindliches Gleichgewicht, das ständig gehalten werden muss. Die Herausforderung der Energiewende besteht darin, dieses System so zu modernisieren, dass wir so viel erneuerbare Energie wie möglich nutzen können – ohne die Netzstabilität zu gefährden.

Speicher, Prognosen, Digitalisierung und Flexibilität sind die Stellschrauben, an denen wir drehen müssen. Der scheinbare Stillstand der Windräder ist daher kein Zeichen von Ineffizienz – sondern ein Symbol dafür, wie weit wir bereits gekommen sind. Und er erinnert uns daran, was noch zu tun ist, um unser Energiesystem fit für die Zukunft zu machen.

Die Energiewende ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Doch jedes stillstehende Windrad erzählt die Geschichte eines Systems im Wandel – und davon, dass der Wind der Veränderung längst weht.

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Matthias Habel

Geschäftsführer

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